Wie stellt man sich einen Hunderjährigen vor? Sicher nicht so wie Ernst Fettner. Keine Spur von Tattrigkeit, Vergesslichkeit oder Weltfremdheit. Hellwach, ein ruhiger Blick unter buschingen Augenbrauen, ein kleines schelmisches Lächeln in den Augenwinkeln, Papier und Schreibstift immer in Griffweite. Nur das Golfspielen wird er demnächst aufgeben und den Golfcaddy gegen den Rollator tauschen. "Nur zur Sicherheit", meint er augenzwinkernd.
"Geh´ Du voran", dieser Leitsatz zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben Ernst Fettners. "Geh´ Du voran" flüsterten ihm seine Begleiter zu, als die SA-Schergen die Tür zu ihrem Versteck im Keller in Wien 9 einschlugen: "Du bist der Jüngste, Dich werden sie nicht erschießen."
"Geh´ Du voran", lautete es auch, als er als erster seiner Familie dem Naziterror nach England und weiter nach Schottland entkam. Hier huscht ein Schatten über das Gesicht Ernst Fettners. Verzweifelte Hilferufe seines Vaters erreichten ihn damals im Exil, er möge doch auch den anderen Familienmitgliedern die Flucht ermöglichen. Doch was konnte er schon tun, allein auf einer schottischen Farm im Nirgendwo, in einem fremden Land, mit einer ihm unbekannten Sprache. Auch sein Vater konnte die begehrten Zertifikate, die der Familie die Flucht ermöglicht hätten, nicht erlangen. Nur zwei seiner Schwestern überlebten die Nazidiktatur, alle anderen Familienmitglieder wurden in den Konzentrationslagern ermordet.
"Geh Du voran" sagte er zu sich selbst als er in die Englische Armee eintrat und bis zum Kriegsende gegen die Nazis kämpfte. "Die wollen uns als Asylanten "enemy aliens" keine Gewehre geben", so Fettner. "Na was soll das", sagten wir, "also wenn wir schon kämpfen, dann nur mit der Waffe. Also gaben sie uns Gewehre." Voran ging es für Ernst Fettner auch im Jahr 1947. Und zwar nach Österreich, ganz im Gegenzug zu den vielen jüdischen Emigranten, die nach dem Krieg in alle Welt verstreut waren, eine neue Heimat gefunden hatten oder es strikt ablehnten, zurückzukehren. "Für mich war klar: Ich wollte nach Österreich zurück", betonte er und landete über Umwege zunächst in Kärnten. "Kannst schreiben?", fragte mich der damalige Chefredakteur des Volkswillens, "naja, schon, sagte ich und so wurde ich Journalist." Mit der Feder bewaffnet schrieb er für ein neues Österreich, zuerst beim Volkswillen, später in Wien bei der Volksstimme. Dem Schreiben blieb er bis zu seiner Pensionierung treu, wurde Redakteur, gehörte zum Journalistentross um Bundeskanzler Bruno Kreisky, war später Vizepräsident der Journalistengewerkschaft.
Das "Vorangehen" hat bei Erst Fettner auch eine sportliche Note. So war er Zeit seines Lebens aktiver Sportler, Langstreckenlauf, Tennis, zuletzt das Golfen. Noch kurz vor seinem 100er schlug er 18 Loch. Damit ist er der älteste aktive Golfer Österreichs.
Die Freude am sportlichen Wettkampf hat er in seine ganze Familie gestreut, immerhin 2 Söhne, 6 Enkelsöhne und 2 Urenkel. Junioren-Weltmeister, Europameister, Vereinsmeister, Best Of The Year - bei den Fettners stapeln sich die Trophäen wie bei den anderen Familien Matchboxautos. Sein Enkel Manuel machte Skispringen sogar für viele Jahre erfolgreich zum Beruf, Enkel Daniel wurde im American Football mit den Vienna Vikings gar Europameister. "Auch meine zweite Frau, Herta Gisela, war eine der besten Handballerinnen Österreichs, sie spielte ihre Damendoppel bis in die hohen Achtziger."
Sonst haben Medaillen, Auszeichnungen, Ehrungen keine besonder Wichtigkeit in seinem Leben. Anlässlich seine Ehrung zum 100. Geburtstag fragt er Bürgermeister Ludwig lediglich: "Na und den Rathausmann bekomm´ ich nicht?" Dieser meinte bedauernd, er habe bereits das Goldene Verdienstzeichen der Stadt Wien, die höchste Auszeichnung, die er vergeben könne. Der Rathausmann sei drei Stufen darunter, den könne er ihm nicht mehr geben. Nur auf den gläsernen Kasten mitten in seinem Wohnzimmer, randvoll mit Pokalen, allesamt im Pensionsalter errungen, da sei er schon stolz.
100 Jahre, wie wird man das? "Eigentlich wäre ja schon mit 85 Schluss gewesen", sagt er schlicht. Nur der Chirurg hätte ihm weitere 15 Jahre geschenkt. Eben diesen Chirurgen hätte er erst später beim Golfspielen kennengelernt. Zufällig, wie eben das Leben so spielt.
Letzte Frage: "Herr Fettner, Sie wohnen in einem Wohnhaus des SOZIALBAU-Verbundes. Warum?" Die Antwort kommt sofort: "Weil es schön ist. Und leistbar. Und darauf kommt´s ja wohl an oder?"
Ein Händedruck zum Abschied. Fest, kühl, bestimmt und doch sanft. Wie das Leben Ernst Fettners, ein Jahrhundert lang.
Am 29. Mai ist Ernst Fettner 100 Jahre alt geworden. Er war der erste und also "jüngste" Bewohner der SOZIALBAU-Anlage im 14. Wiener Gemeindebezirk. Und er ist heute der älteste Bewohner einer SOZIALBAU-Wohnung. "Meine Nachbarn? Kennen mich kaum", so Ernst Fettner, "vielleicht lernen sie mich jetzt ein bisschen beser kennen."
Ernst Fettner
29. Mai 1921 geboren als Sohn einer jüdischen Immigrantenfamilia aus Galizien
28. März 1939 Flucht nach England
Verschickung nach Nordschottland als Farmarbeiter
1939 Eintritt in die frei österreichische Bewegung "Young Austria"
1940 Eintritt in die britische bzw. schottische Armee
Mit den Gordon Highlanders Kampf gegen das NS-Regime
Beteiligung bei der Invasion der Aliierten in der Normandie
Ab 1947 Journalist und Redakteur Volkswille, dann Volksstimme
Ende 70er, Anfang 80er Jahre Vizepräsident der Jounalistengewerkschaft
3 Medaillen der British Army, darunter die Tapferkeitsmedaille
1980 Ehrenzeichen um die Verdienste zur Befreiung Österreichs durch den Bundespräsidenten
2007 Goldenes Verdienstzeichen des Landes Wien